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Die Begegnung.


Es war ein kühler, sonnige Frühjahrstag, der in meiner Erinnerung noch immer lebendig ist, obwohl seither so viele Jahre vergangen sind. Der viel zu frühe Tod meiner Mutter – sie war ein Jahr zuvor, mit nur 50 Jahren an Krebs gestorben – hatte mein Selbstverständnis von Glück, von Unversehrtheit und den Glauben daran, dass es immer einen Ausweg gibt, zerstört. Ohne Worte des Abschieds war sie ganz leise gegangen – nein, aus unserer Mitte geholt worden – denn weder war sie bereit, noch hatten wir mit ihrem Tod gerechnet. Ohnmächtig blieben mein Vater, meine Geschwister und ich zurück.


Nun saß ich hier mutterseelenalleine in diesem kleinen Garten des Uniklinikum Mainz und hatte Angst. Ein paar Wochen zuvor war unter Kopfschmerzen, mein linkes Auge plötzlich hervor getreten. Schnell wurde radiologisch ein kastaniengroßer Tumor in der Augenhöhle festgestellt. Welcher Art dieses Gewächs war, darüber konnte mir aber kein Arzt Auskunft geben, eine Biopsie an dieser unzugänglichen Stelle war unmöglich. So wurde Ich von Arzt zu Arzt gereicht, bis zu diesem Tag, als Professor Lieb in Mainz, eine abschließende Diagnose stellen sollte.


Während im Inneren der Klinik die Experten über meinen Fall urteilten und ich zuvor etlicher Untersuchungen über mich hatte ergehen lassen, saß ich nun auf einer der Parkbänke, dachte an meine beiden kleinen Kinder zuhause, die mich brauchten und hielt mich an einem über hundert Jahre alten Büchlein fest. Dieses kleine Buch war mein Schatz. In Zeiten, da die innere Stimme ratlos war, gab es mir Kraft und half mir den positiven Blick auf das Leben und die Welt nicht zu verlieren.


Das Kapitel, was ich nun aufgeschlagen in meinen Händen hielt – ich werde es nie vergessen – handelte davon, Menschen nicht nach ihrem Äußeren zu beurteilen. Und während ich so las, nahm ich eine Bewegung wahr. Ich blickte auf und sah einen Obdachlosen, sein Hab und Gut in einem Wagen hinter sich herziehend, durch den kleinen Garten schlurfen. Seine Kleider, eher Lumpen waren graubraun, die ursprünglichen Farben unter Schmutz und Dreck verdeckt. Die Haare zottelig, der Bart lang, kam er langsam und leise in meine Richtung.


In der Mitte des kleinen Parks lag ein Brunnen im Winterschlaf, rings herum führte ein ovaler Fußweg, an jeder Seite standen Sitzbänke. Alle Bänke waren leer – bis auf die eine, auf der ich saß. Der Clochard kam zielstrebig auf mich zu. Ich zwang meinen Blick ins Buch, als er sich ausgerechnet auf das andere Ende meiner Bank setzte. Ich gebe zu, mich ekelte ein wenig, da meine Nase sehr geruchsempfindlich war und ich fürchtete, eine nach Talg und Exkrementen riechende Wolke könne zu mir herüber wabern. Also atmete ich flach, auf der von ihm abgewandten Seite. Am liebsten aber wäre ich meinem Impuls gefolgt, aufzuspringen und zu verschwinden. An jedem anderen Tag hätte ich das wahrscheinlich getan, nicht an diesem. Die Worte des Büchleins, das aufgeschlagen in meinem Schoß lag, mahnten mich zu bleiben.


Verstohlen beobachtete ich aus dem Augenwinkel, wie er sich vornüber beugte und in seinen abgegriffenen Tüten wühlte. Ich sah auf seine runzelige, rot geäderte Haut und versuchte mir vorzustellen, wie er als kleines Kind ausgesehen haben mochte, als er in den Armen seiner liebenden Mutter lag – hatte er überhaupt je eine liebende Mutter gehabt? Er zog die zur Faust geballte Hand aus der Tüte und wand sich plötzlich mir zu. Als er die Hand öffnete und zu mir herüber streckte, lagen darin zwei schmutzige Bonbons.


'Oh nein', dachte ich, 'ich will diese Bonbons nicht', als sich unsere Blicke trafen. Er hatte gütige, helle, fast wässrige Augen, die mich bittend ansahen. Zögerlich nahm ich eines der Bonbons aus seiner Hand – sein Blick hatte nun etwas aufforderndes, fast prüfend. Ich wickelte das Bonbon aus dem Papier und schob es mir tatsächlich in den Mund, es schmeckte süß. In diesem Moment begannen seine Augen zu strahlen, über sein eben noch trauriges Gesicht breitete sich ein gütiges Lächeln. Dann erhob er sich wortlos, packte seine sieben Sachen und ging davon. Noch einmal blieb er stehen, nickte mir wissend zu, dann war er verschwunden. Mich durchströmte plötzlich Wärme und Ruhe und die Gewissheit, dass mir nichts passieren konnte.


Professor Lieb versicherte mir eine halbe Stunde später, dass mein Tumor gutartig sei.




  • eine wahre Geschichte








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