Seit gut einer Woche waren wir unterwegs. Dass wir uns so ausgiebig Zeit für die Reise ins südliche Spanien nahmen, nur kurze Etappen von maximal drei bis vier Stunden täglich zurücklegten, war Anton geschuldet, der nichts so sehr fürchtete wie Autofahrten.
Ein kleiner Hund sollte es sein, den man mit in die Kabine des Flugzeugs nehmen durfte. Nicht zu klein, bloss keinen hysterischen Kläffer, sondern einen mit Charakter und Ausgeglichenheit – bekommen haben wir Anton. Einen meist unzufrieden drein schauenden Boston Terrier, der niemals satt zu sein scheint und es zu meinem Leidwesen nicht schätzt, gestreichelt zu werden.
Flugreisen fielen flach, da Anton im zarten Alter von zwei Jahren, anstelle der zu erwartenden acht Kilo bereits zwölf auf die Waage brachte. Seine zähneklappernde Angst vorm Autofahren hielten wir für therapierbar – irgendwann würde er sich daran gewöhnen, so dachten wir.
In Frankfurt waren wir gestartet und am ersten Tag bis Zürich gekommen, wo wir zwei schöne Tage verbrachten, bevor uns die Reise weiter nach Annecy führte. Anton war es bis dahin nicht gelungen sich zu entspannen. Er stand während der gesamten, ruhig dahin gleitenden Kilometer auf seinen vier Füßen und zitterte leise vor sich hin. Unsere Route hatten wir so geplant, dass er in den jeweiligen Unterkünften nicht nur willkommen war, sondern uns auch in Restaurants begleiten durfte. In der Schweiz und Frankreich war das kein Problem, schwieriger war es eine solche Herberge in Spanien zu finden. Bei unserem nächsten Ziel, einem kleinen Landhotel in der Provence – waren die Voraussetzungen perfekt. Hier bekam er sogar Gänseleber serviert – die wir verschmähten – zwei Tage und Nächte weilten wir an diesem schönen Ort.
Als wir am nächsten Morgen bei herrlichem Sonnenschein aufbrachen, wussten wir, dass uns die längste Etappe der gesamten Reise bevorstand. Was wir nicht ahnen konnten, war was uns dort, etwa dreissig Kilometer hinter Barcelona, erwarten sollte. Am Nachmittag wähnten wir uns schon fast am Ziel – vielleicht noch eine halbe Stunde Fahrt, nahmen wir an, als wir endlich von der Autobahn abfuhren, während sich der Himmel, zu früh für diese Tageszeit, verdunkelte. Die Straße führte ins Landesinnere, verjüngte sich und stieg dann stetig an. Immer steiler, immer einsamer ging es in Serpentinen bergauf und die kalkulierte halbe Stunde war längst überschritten, als schwere, düstere Wolken vor uns aufzogen. Schon nach wenigen Kilometern war weit und breit kein Auto zu sehen. Die Zeit zog sich im Schneckengang dahin, vorbei an schroffen Felsen und Geröll, an verwachsenen Pinien und Olivenbäumen, von anderen Menschen keine Spur und selbst die letzte Ziegenherde lag schon viele Kurven zurück. Immer wieder schaute ich auf die Landkarte in meinem Schoß, vergewisserte mich, dass wir uns nicht verfahren hatten – aber es musste die richtige Straße sein, denn es war die einzige. Mittlerweile hatte sich der Himmel soweit verdunkelt, dass er die Landschaft in ein unwirkliches, ein dramatisches Licht tauchte. Wir malten uns bange, mit hungrigen Mägen aus, dass es das Hotel vielleicht längst nicht mehr gäbe, zu unwahrscheinlich erschien uns eine Existenz in dieser unwirtlichen Umgebung. "Reisen mit Hund" oder so ähnlich, hatte die Webseite geheißen, auf der die Herberge als eine Art Landhaus mit Restaurant empfohlen wurde und das einzige Haus auf unserem Weg nach Süden, in dem Hunde willkommen waren. Was für Menschen mochten das sein, die in dieser Einöde ein Hotel betrieben? Jack Nicholson aus dem Film Shining kam uns voller Unbehagen in den Sinn. Die karge Landschaft und Lichtstimmung beflügelten unsere Fantasie, ließen uns erschaudern. Die Umgebung, soweit man sie im düsteren Grau der Wolken wahrnahm, weitete sich nun etwas, hier und da sah man das Dach eines einfachen Steinhauses oder Stalls. Wahrscheinlich waren die Bewohner dieser finsteren, wie abgelegenen Bergregion längst zum heutigen Festschmaus geladen, der Wirt freute sich auf Umsatz, während der Koch die Messer wetzte und unsere Ankunft sehnsüchtig erwartete - es gäbe Touristen am Spieß. Halb scherzend halb mulmig malten wir uns gruselige Szenen aus. "Warte, wahrscheinlich biegen wir gleich um die Ecke und werden von einem großen, schwarzen Hund erwartet, einem tollwütigen Cujo, entsprungen aus Stephen Kings gleichnamigen Roman, der als erstes unseren Anton zerfleischen wird." Wir bogen um die Ecke auf ein kleines Plateau, fuhren direkt auf ein großes schmiedeeisernes Tor zu, auf dessen Schriftzug ein Adler landete "La Moixeta".
Hinter dem Tor wartete ein großer, schwarzer Hund – wir waren am Ziel.
Mit eingerosteten, etwas wackeligen Beinen stiegen wir aus dem Wagen. Zum Glück war das Tor geschlossen, als im selben Moment der schwarze Hund einfach daran vorbei in unsere Richtung kam und Anton, durch den Stress der Fahrt in hohem Bogen und adrenalingeladen aus dem Auto sprang. Anton knurrte, als sich der Rivale näherte, mein Herz pochte aber der Schwarze wedelte nur freundlich, begrüßend mit dem Schwanz. Ihm hinterher eilte der Hausherr, ein Spanier mittleren Alters mit fleckigem T-Shirt und fahler Haut, die anstatt sonnengebräunt eher dem Grau des Himmels glich. Er lächelte müde, nein desillusioniert – so würde ich den Ausdruck beschreiben – und öffnete das Tor. Wir folgten ihm hinter das Haus zu einer Art Feuerleiter oder verzinkter Außentreppe, die zu unserem Zimmer führte. Ob das Restaurant geöffnet sei, wollten wir wissen, er nickte, sprach sogar einige Brocken Deutsch, als er die Zimmertür öffnete.
Das Gemäuer war dick wie eine Festung, ein kleines vergittertes Fenster erinnerte an ein Verließ. Anton machte augenblicklich kehrt, setzte sich mit dem Rücken zu uns das Gesicht dicht an der Tür, die aus einer geschmacklosen Zeit stammte, als wolle er diesen Ort so schnell wie möglich wieder verlassen. Wir ließen uns erst einmal aufs Bett fallen, dachten über unsere Situation nach, während draußen Blitze über den Himmel zuckten. Da wir nun einmal an diesem gottverlassenen Ort gestrandet und unserer gruseligen Fantasie nach, den Machenschaften des Wirtes ausgeliefert, waren, wollten wir dem Ende wenigstens bei einer Flasche Rotwein entgegen sehen.
Schicksalsergeben erhoben wir uns, gingen die Treppe hinunter, um zur Vorderseite der Hauses zu gelangen, als ein gewaltiger Donner die Wolkendecke zerriß und ein Hagelsturm losbrach. Wir rannten und erreichten gerade noch halbwegs trocken den Gastraum. Energiesparlampen über einem Tresen tauchten den Raum in kaltes Licht. An der mit Rauputz versehenen Wand waren Regalborde befestigt, auf welchen sich allerhand Krimskrams, darunter eine Stereoanlage aus den Achtzigern angesammelt hatte. Kreuz und quer hingen Kabel, die unterschiedliche Gerätschaften unschön verbanden. An der Ecke eines Bordes baumelte ein altes Nokiahandy, aus dessen krächzendem Lautsprecher drei Lieder in Endlosschleife liefen. Untermalt wurde die Musik vom Brummen eines Kühlschranks, hin und wieder sprang in unmittelbarer Umgebung ein Generator laut rasselnd an. Kaum, dass wir uns auf die Barhocker setzten schaute der Wirt um die Ecke. Er hatte sich ein frisches, geringeltes Shirt angezogen und stellte eine Karaffe Rotwein vor uns auf die Theke. Über uns tobte das Gewitter, Anton hatte sich ängstlich am Fuß unsere Barhocker zusammen gekauert. Der Wein war kühl und köstlich, wie ein einfacher, spanischer Landwein eben köstlich sein kann, zumindest tat er gut daran, uns ein wenig zu entspannen. Ob wir die einzigen Gäste seien, fragten wir vorsichtig, was der Wirt bejahte. Angerostete Getränkedosen standen vermutlich schon Monate neben einem großen Glas undefinierbaren Inhalts am anderen Ende des Tresens. Eine Art Gekröse aus Schnecken und Schleim vermuteten wir und wanden uns angewidert ab. Hin und wieder wurde die Tiefe des Raums durch Blitze erhellt, so dass wir einen Blick auf den angrenzenden Gastraum erhaschten. Einen Saal so groß, dass er zweihundert Gäste fasste, komplett hergerichtet und eingedeckt war.
Nichts passte hier zusammen. Der Wirt verschwand wieder und wir wagten einen vorsichtigen Blick in Richtung Küche, aus der wir ein Klappern vernahmen. Hineinsehen konnten wir nicht. Eine riesige, offene Feuerstelle, so groß, dass man einen ganzen Ochsen oder zwei Touristen am Drehspieß hätte braten können, versperrte uns die Sicht. Das passte wiederum zum gedeckten Festsaal. Ein weiterer Schluck Rotwein verhalf zu mehr Gelassenheit, als der Hausherr mit zwei kleinen Tellern zurückkehrte und unaufgefordert vor uns stellte. Darauf Satéspießchen mit Erdnusssoße und eine Art Fischbällchen, fein asiatisch zubereitet und mit Koriander garniert. Verblüfft schauten wir erst uns, dann ihn fragend an. Diese Küche hätten wir dem Ort nie zugeschrieben – er lächelte und ermunterte uns zuzugreifen und gerade als wir in das krosse, duftende Bällchen beißen wollten, klopfte, nein, hämmerte es an der Tür. Erschrocken zuckten wir zusammen und starrten auf die Türklinke, die von außen nach unten gedrückt wurde. Als die Tür sich einen Spalt öffnete, peitschte ein kalter, nasser Wind herein, gefolgt von einer Gestalt - einem Mann, der einen Poncho oder Umhang trug. Von der tief ins Gesicht gezogenen, schwarz, glänzenden Kapuze tropfte das Wasser. In seiner Hand hielt er einen großen Ast, eine Art Hirtenstab, mit dem er drei Mal fest auf den Boden donnerte. Daraufhin reichte ihm der Wirt, ohne ein Wort zu verlieren, eine Tüte Kartoffelchips, die der Unheimliche selbstverständlich entgegen nahm. Dann stieß er ein paar röchelnde und rasselnde Laute hervor, wie sie einem Kehlkopflosen eben möglich waren und verschwand so schnell, wie er gekommen war, im tosenden Gewitter. Eine Gänsehaut lief mir über den Rücken.
Der Wirt schenkte Wein nach, wir spülten den unheimlichen Besucher wortlos herunter und probierten die kleinen Köstlichkeiten. Sie schmeckten fantastisch. Wir fragten uns wer diese Leckereien zubereitet haben mochte, als ein junger Mann, schüchtern lächelnd aus der Küche lugte. Er hatte ein rundes Gesicht, seine freundlichen Augen schienen ein wenig auswärts gerichtet, man konnte schwer sagen, ob er uns ansah, als er näher kam und schließlich neben dem Wirt hinter dem Tresen stehen blieb. Unser Lob auf seine Kochkunst, nahm er in seiner asiatisch höflichen, etwas schüchternen Art entgegen. Noch immer krächzten dieselben Songs aus dem alten Handy, das Gewitter hatte sich etwas beruhigt, die hohe Luftfeuchtigkeit schlug sich am Zapfhahn der Theke und dem alten brummenden Kühlschrank nieder. Die Situation war äußerst skurril und ergab einfach kein schlüssiges Bild. Wie in drei Teufels Namen passte hier eins zum anderen?
Dem jungen Koch schienen mittlerweile, die immer wiederkehrenden Lieder zu stören, er drückte hilflos auf dem Handy herum und entschuldigte sich für den schlechten Klang. Der Wirt erklärte uns, dass sie wohl Internet hätten, die Musikanlage aber leider ihren Geist aufgegeben hätte, was in Anbetracht des Alters kein Wunder war. Da uns das Gedudel aus dem alten Telefon langsam unerträglich wurde, schlugen wir vor unseren Laptop vom Zimmer zu holen. Kaum hatten wir das Gerät mit dem W-Lan gekoppelt, leuchteten ihre die Augen. Wir fragten, ob sie einen Musikwunsch hätten und ohne eine Sekunde zu überlegen, sagte der ältere der Beiden:
"Über den Wolken, von Reinhard May"
Obwohl wir glaubten uns könne an diesem Tag nichts mehr verblüffen, schauten wir uns wieder verwundert an, diesmal schmunzelnd. Und sobald die Gitarre erklang und Reinhard, sein berühmtestes Lied anstimmte, sang unser spanischer Wirt, wie selbstverständlich, Silbe für Silbe mit. Die Augen glasig, schien er in melancholischen Erinnerungen zu schwelgen, während er sich hinter seinem Tresen zur Musik wiegte. Er erzählte uns, dass er als junger Mann einmal in München, in der Gastronomie gearbeitet hatte und dies seither sein Lieblingslied sei, woraufhin wir es noch ein zweites Mal abspielen sollten. Währenddessen war der junge Thai nach oben auf sein Zimmer gelaufen und kam mit einem völlig abgegriffenen Taschenbuch zurück. Das Cover hatte an den Ecken die Farbe verloren, Eselsohren zeugten von häufigem und wiederholtem darin Blättern und Lesen. Er legte es vor uns auf die Theke, während sein Freund dahinter leise 'muß die Freiheit wohl grenzenlos sein ...', sang. 'Siddhartha' von Hermann Hesse – sein Lieblingsbuch – er nahm es, strahlte über das ganzen Gesicht und drückte das Buch, wie einen Schatz an seine Brust. Leider könne er kein Deutsch, deshalb die englische Übersetzung, aber er wolle es lernen. Und dann war er an der Reihe und wünschte sich "Die Zauberflöte" von Mozart zu hören.
Die beiden hatten große Freude an der Musik, sie sangen und tanzten und erzählten uns aus ihrem Leben. Dass sie sich in Thailand kennen und lieben gelernt haben und davon träumten, dort ein Hotel zu eröffnen, wenn es Ihnen endlich gelänge, einen Käufer für 'La Moixeta' zu finden. Aber wer wollte schon einen alten Haufen Steine, an einem Ort, wo Fuchs und Hase sich Gute Nacht sagten, fragten sie mutlos? Früher, ja früher, so hatte man ihnen damals versprochen, waren die reichen Städter aus Barcelona zum Wochenende gekommen. Die Zeiten hatten sich leider geändert, die spanische Wirtschaft läge am Boden und überhaupt müsse man ins Haus investieren, um attraktiver zu werden – zunächst wollten sie auf eine neue Musikanlage sparen. Aber der eingedeckte große Saal wollten wir wissen? Hin und wieder gäbe es ein Jubiläum oder wenigstens eine Beerdigung, die man für die Bewohner der Region ausrichten dürfe und ja, am kommenden Wochenende, da fände so eine Feier statt. Der spanische Wirt, dessen Namen wir nicht kannten, obwohl er uns im Laufe des Abends schon ein wenig ans Herz gewachsen war, erzählte teils hoffnungsfroh teils resigniert, bis sein jüngerer Lebensgefährte unterbrach und uns bat im Speisesaal Platz zu nehmen – schließlich sei das bislang servierte nur ein Gruß aus der Küche gewesen.
Wir folgten und setzten uns, hatten mittlerweile die zweite Karaffe Wein an diesem denkwürdigen Abend vor uns, bevor uns ein so üppiges Mahl gereicht wurde, das wir unmöglich schaffen konnten, obwohl es einfach köstlich war.
Das Gewitter war verzogen, die Wolkendecke aufgerissen, als wir am nächsten Morgen auf La Moixeta erwachten. Mit dem Gewitter schien auch das Karge verschwunden, es grünte und zwitscherte und die Zikaden zirpten, wie man es vom Süden kannte. Wir machten einen kleinen Spaziergang und nahmen den schwarzen Haushund auf unsere Runde mit, bevor uns der Duft nach frischem Kaffee zurück in den großen Saal lockte. Wahrscheinlich muss ich nicht erwähnen, dass das Frühstück, ebenso wie das Abendessen alles überbot, was wir bislang auf unseren Spanienreisen gewohnt waren.
Als wir uns schließlich verabschiedeten und uns auf den Weg zu unserer letzten Etappe machten, blickten wir beseelt zurück und nahmen uns fest vor, eines Tages wieder zu kommen – Aber 'La Moixeta' gibt es nicht mehr.
In meinen Wunschträumen sehe ich die Beiden glücklich, ein kleines Hotel in Thailand betreiben, den Touristen hinter einem Bambustresen exotische Cocktails mixen, während Reinhard May im Wechsel mit Mozart für die richtige Stimmung sorgen.
eine wahre Geschichte
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