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Verwischte Erinnerungen

auf unserer Reise von Frankfurt nach Hamburg, Anfang Oktober diesen Jahres machten wir einen Zwischenstopp in Bad Harzburg, tranken einen Kaffee und vertraten uns ein wenig die Beine, bis wir an einer wirklich winzigen Galerie vorbei kamen, deren Exponate uns in ihren Bann und direkt in den kleinen Raum zogen. Was anmutete wie kunstvolle Aquarelle, virtuos auf glatt, metallischem Hintergrund gepinselt, entpuppten sich als Fotografien der Künstlerin, Susanne Lyoubi-Burk. Diese einzigartig, verwaschenen, großformatigen Fotos entstehen nicht durch nachträgliches Bearbeiten am Computer, sondern durch gekonnte Bewegung der Kamera, während der Aufnahme, "Intentional Camera Movement" genannt. Wir konnten uns von den Bildern kaum losreißen, so dass ich sie unbedingt hier auf meiner Seite verlinken mochte, damit auch meine Leser in den Genuss und vielleicht auf die Idee kommen, sich eines der limitierten Exponate nachhause zu holen.


Eines der Bilder erinnerte mich spontan an eine Kurzgeschichte, die ich vor langer Zeit einmal schrieb, nachdem ich mit meinem Vater im Auto unterwegs war. Wir fuhren damals von Frankfurt nach Mörfelden-Walldorf, eine Strecke die er gut kannte, da er sie regelmäßig zurücklegte. Als wir gerade von der Landstraße durch den Stadtwald, nach rechts auf eine Brücke abbiegen wollten, sagte er zu mir: "Pass mal auf, hier wird uns gleich eine feine Frau im langen Abendkleid begegnen!"

Ich schaute ihn fragend an, "wie, was für eine Frau?", fragte ich ungläubig – es regnete in Strömen. Mein Vater zuckte mit den Schultern und deutete aus dem Fenster. Als wir am Scheitelpunkt der Brücke angekommen waren, sah ich sie – der Saum des Abendkleides bereits durchnässt, nur unzureichend durch ein kleines rüschenbesetztes Schirmchen geschützt, schritt sie gedankenversunken den Seitenstreifen der Brücke entlang. Ich drehte meinen Kopf, wollte ihr ins Gesicht sehen, als könne ich darin etwas lesen, aber ich erkannte nichts, außer einer verschwommenen Gestalt, die unbeirrt weiter ging.

"Sie ist immer hier, ich weiß auch nicht wieso", sagte mein Vater, "ist das nicht seltsam?"

Mich ließ das Geschehen lange nicht los und inspirierte mich zu dieser kleinen Geschichte:


 

Vergessen

Der gepackte Koffer stand bereit. Ich konnte, nein durfte ihn nicht übersehen, hatte ihn in die Mitte des Zimmers gestellt - er sollte mein Leben verändern. Ich schlang die Stola enger um meine Schultern und trat ans Fenster. Meine Augen folgten den Regentropfen, wie sie in Pfützen eintauchten, einmal tanzend aufsprangen, dann unsichtbar untergingen, sich auflösten und im Rinnstein davon flossen. Heute würde ich nicht mehr auf die Straße gehen, heute nicht. Mich fröstelte, in meinem Hals hatte sich ein Halsschmerz ausgebreitet, der selbst den kleinsten Schluck Tee zur Mutprobe werden ließ. Meine Hände umfassten den großen, warmen Becher, die Nägel sauber manikürt und rot lackiert. Wenn ich die Finger, wie jetzt, fest um die Tasse geschlossen hielt, sah man das Pergamentartige, sich Knitternde nicht. Genau so würde ich ihm die Hand zum Kuss reichen, leicht gebeugt, gestrafft und schlank. Seine Lippen würden hauchend über den Handrücken gleiten, minimal berührend, Gänsehaut bildend den Arm hinauf wandern, bis in die köstliche Beuge von Schulter zu Hals. Dort fordernd, saugend, mich begierig an seinen Körper ziehend, einnehmen. Ich erschauderte und nippte an meinem Tee, schloss die Augen, den kurzen Überwindung kostenden Moment des schmerzhaften Schluckens, um anschließend tränengetrübt aus dem Fenster in den November zu starren. Nein, heute würde ich keinen Schritt nach draussen machen, so wie ich es auch gestern und vorgestern und all die Tage zuvor besser nicht getan hätte.

Vor meinem geistigen Auge sah ich die hinter vorgehaltener Hand tuschelnden Menschen, wenn ich in meinem Kleid an ihnen vorbeiging – was wussten die schon? Das Kleid war in die Jahre gekommen, wie auch ich. An einigen Stellen dünn und ausgebessert, aber es passte noch. Wenngleich es sich irgendwie verzogen hatte, die Abnäher saßen etwas oberhalb der Brust und in der Taille sperrte ein Knopf, der mich zwang, aufrecht zu gehen.

"In diesem Kleid siehst du einfach umwerfend aus, das solltest du immer tragen!" hatte er einmal zu mir gesagt.

Damals, als ich ihm das erste Mal begegnete, hatte ich es gerade erst in der Boutique hinter dem Rathaus gekauft, hatte mich dafür belohnt, eine gescheiterte Beziehung überwunden zu haben und war bereit in ein neues Leben zu starten. An jenem Abend vergass ich meine Verabredung mit Nelly, einer Kollegin, just in dem Moment, als sein Wagen neben mir hielt, das elektrische Fenster sich senkte und er mich nach dem Weg fragen wollte. Unsere Blicke trafen sich und es war eine jener schicksalhaften Sekunden, die alles ringsherum zum Stillstand brachte. Anstatt nach dem Weg, fragte er: "Darf ich Sie zum Essen einladen?", schob halb flehend, halb fordernd hinzu, "bitte sagen Sie nicht nein!", während er sich herüber beugte und von Innen die Beifahrertür aufdrückte.

Ich glitt mit einer Selbstverständlichkeit auf den Sitz, die mir noch heute bedeutungsvoll erscheint. Zwar pochte mein Herz bis zum Hals, suchten meine geschärften Sinne nach Indizien einer Gefahr, aber tief von Innen wusste ich, dass ich nirgendwo besser aufgehoben, als in der Nähe dieses Mannes sein konnte.

Ich bewunderte seine schönen Hände, wie sie das Lenkrad umfassten. Die Klavierlack schwarz, glänzenden Manschettenknöpfe, gold gefasst, auf blütenweissem Hemd, die unter dem schwarzen Sakko hervor blitzten, während wir in schüchterner Stille dahin rollten. Kurz darauf saßen wir uns im Restaurant eines vornehmen Hotels gegenüber. Ich bekam kaum einen Bissen herunter und neben einem dümmlichen Grinsen war mein Gesicht nur fähig, mich in seinen Augen zu verlieren. Er sprach mit schöner Stimme, ich hörte den Klang, aber keine Worte. Auch er schien nicht wirklich hungrig und erlöste uns schließlich aus der Situation, indem er meine Hand nahm und mich zu den Aufzügen im Foyer führte. Wie selbstverständlich begleitete ich ihn auf sein Zimmer. Wir küssten uns, entkleideten uns gierig und liebten uns – nein, verschmolzen wie zwei Hälften zu einem Ganzen.

"Ich bin gestern meinem zukünftigen Ehemann begegnet", entschuldigte ich mich bei Nelly, in der Kaffeeküche des Büros, dafür, dass ich sie hatte sitzen lassen. Sie hörte fasziniert, vielleicht ein bisschen neidisch zu, als ich ihr von meiner unglaublichen Nacht erzählte. "Das ist Liebe auf den ersten Blick, als würde man einem lange verloren gegangenen Teil seiner selbst begegnen." Sie zog skeptisch die Stirn kraus: "Wann seht ihr euch wieder?"

"Heute Abend, gleiche Stelle, gleiche Uhrzeit."

Das tiefe Brummen seines Motors flatterte regelrecht durch meinem Bauch, als er pünktlich um achtzehn Uhr, langsam von hinten heran rollte. Wir verloren keine Zeit, fuhren direkt ins Hotel und fielen bebend übereinander her. Dann bestellten wir Essen aufs Zimmer, lachten und neckten uns und lagen uns in den Armen. "Wo bist du nur mein ganzes Leben gewesen?", fragte ich. Er lächelte und küsste zärtlich meinen Scheitel.

Meist war er verschwunden, wenn ich erwachte, dann lag ein Zettelchen auf meinem Kopfkissen: "18°° auf der Brücke!", stand darauf und mein Herz hüpfte.

Wir liebten dieselben Filme, hatten die gleichen Bücher gelesen, waren füreinander geboren, das spürte ich. Auch als er eines Abends nicht kam – ich lief die Brücke zwei Stunden auf und ab, schaute abwechselnd auf die Uhr und auf die vorbeifahrenden Autos – stellte ich unsere Liebe nicht in Frage. Vielmehr machte ich mir Sorgen, ihm sei etwas Schlimmes zugestossen und malte mir die ganze Nacht schreckliche Szenarien aus.

"Es tut mir so leid", schloss er mich fest in die Arme, als wir uns am folgenden Abend trafen. Es sei etwas dazwischen gekommen, er könne es irgendwann erklären, machte ein Geheimnis um seinen Beruf. Ich glaubte ihm. Auch als er zeitlich mehr eingespannt war und wir immer häufiger nicht die Nacht, sondern nur den Abend, manches Mal nur eine Stunde auf irgendeinem Parkplatz miteinander verbrachten, war ich dankbar, dass er seine knappe Zeit mit mir verbringen wollte.

Mal kam er zwei Abende hintereinander nicht, ich war wütend und verletzt und sagte mir, morgen gehst du nicht zur Brücke, doch pünktlich um sechs war ich wieder da. Zum Glück, er erwartete mich sehnsüchtig, war untröstlich. Wir verbrachten den ganzen Abend, die ganze Nacht und den Morgen miteinander. Er bedankte sich für meine Liebe, überhäufte mich mit Liebkosungen und Komplimenten und versprach, dass er schon bald nur noch Zeit für mich hätte.

"Wir sehen uns heute Abend um sechs!", sagte er zum Abschied und küsste mich innig – zum letzten Mal.

Seither verging kein Abend, an dem ich mir nicht mein rotes Kleid überstreifte und pünktlich um sechs über die alte Brücke ging, in der Gewissheit, dass heute der Tag sei, an dem er wiederkäme und kein Abend, an dem ich mir nicht resigniert auf dem Nachhauseweg vornahm, dass es das letzte Mal gewesen sein muss. So viele Reisen, die ich nicht angetreten, so viele Menschen, die ich nicht kennen gelernt und Kinder, die ich nie bekommen habe. Ab morgen würde alles anders.

Einmal vor ein paar Jahren hatte mich John aus der Buchhaltung, er war ein netter Mann, gerade frisch geschieden, angesprochen, ob ich mit ihm ausgehen würde. Ich fühlte mich geschmeichelt, ich mochte ihn und sagte zu. Doch als der Abend kam, wurde ich unsicher, glaubte meine Liebe zu verraten. Was, wenn er ausgerechnet heute zurückgekehrt war, verzweifelt nach mir suchte? Ich sagte John ab.

Der Regen hatte etwas nachgelassen, der Wind blies die letzen Blätter von den Bäumen und klebte sie auf die nasse Strasse. Ich sah mich im Zimmer um, alles befand sich seit Jahren im Stillstand – nur die Zeiger der Wanduhr bewegten sich, zählten rückwärts meine Lebenszeit.

Der Koffer war unübersehbar, der Flug war gebucht. Ich erschauderte vor Aufregung über meine eigene Courage. Die Wanduhr schlug drei Mal – viertel vor sechs– es durchzuckte mich. Nein, heute hatte ich wirklich etwas anderes vor.


Die vertraute Stimme in meinem Kopf begann leise zu wispern: "Das machst du genau richtig, irgendwann musst du einen Schlussstrich ziehen. Schade nur, dass er ausgerechnet heute, wenn du nicht da bist, zurückkehren wird."

"Quatsch", entgegnete ich.

"Er wird über die Brücke kommen, dich nicht finden und niemals erfahren, wie lange du auf ihn gewartet hast – dann sind es achtzehn wirklich vergeudete Jahre."

Ich atmete tief ein, dachte darüber nach. War es nicht immer so, dass erst wenn man etwas losließ und aufgab, es zu einem zurückkam?

Die Stimme bohrte nun: "Morgen bist du im Süden, streckst die Füße in die Sonne. Was hast du zu verlieren? Auf das eine Mal kommt es doch nicht an, die Zeit reicht noch. Also, mach dich auf den Weg!"

Ich zog hastig das rote Kleid über, zupfte meine Frisur zurecht und eilte los. Trotz dass mir der Novemberregen ins Gesicht peitschte, war ich wie elektrisiert, etwas war anders – Ich spürte ihn ganz in der Nähe. Kaum dass ich die Brücke erreicht hatte, hörte ich das vertraute Brummen seines Autos nahen und blickte mich mit pochendem Herzen um – nur ein Taxi – aber gleich, gleich wird er kommen.


Das Taxi bog von der Landstraße nach rechts auf die Brücke, die in den Ort hinein führte. Eine Ewigkeit zurückliegend hatte er hier eine Fortbildung besucht, einen halben, wilden Sommer lang.

"Haben Sie die Frau eben gesehen?", fragte der Taxifahrer.

"Was, wie?", antwortete er und blickte von seinen Seminarunterlagen auf. Das im Regen streuende Licht verwässerte die Sicht. Er wischte den Beschlag von der Scheibe.

"Ich seh nix, welche Frau?"

"Na, die feine Dame im langen Kleid", lachte der Taxifahrer. "Unsere Verrückte, jeder kennt sie hier im Ort. Läuft seit rund zwanzig Jahren im roten Kleid die Straße auf und ab, bei jedem Wetter, da können Sie einen drauf lassen. Heute hat sie nen Koffer dabei, mal was Neues."

"Aha", sagte er, drehte noch einmal den Kopf, mehr aus Höflichkeit, versuchte im Heckfenster etwas zu erkennen, sah nichts. Moment mal, ist das die Brücke? Eine verblasste Erinnerung durchfuhr ihn so schnell, wie sein Gewissen sie abschüttelte.

Sie bogen nach links in Richtung Stadtmitte. "An der nächsten Ecke können Sie mich absetzen!", sagte er, "in dem kleinen Hotel übernachte ich."

"Bleiben Sie länger?", fragte der Taxifahrer. "Nur drei Tage, dann fliege ich zurück."

"Rufen Sie mich an, dann hol ich Sie hier wieder ab!" Der Fahrer reichte seine Visitenkarte nach hinten, ein schwarzer Manschettenknopf, gold eingefasst, glänzte, als er sie entgegen nahm.



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